Moin, Ihr Lieben,
zuerst einmal möchte ich Euch danken: So viele liebe Kommentare und Nachrichten habt Ihr mir im Anschluss an die ersten beiden Posts zu unserer erneuten Fehlgeburt geschrieben! Ganz herzlichen Dank; bei all dem Kummer tut es total gut zu wissen, dass wir nicht alleine sind.
Und es beruhigt mich, dass es anscheinend vielen, die ebenfalls eine Fehlgeburt hatten oder einen lieben Menschen verloren haben, mit dem Verdrängen ähnlich geht. Das ist zwar kein 'schönes' Phänomen, doch ich verstehe jetzt eher, wie es dazu kommen konnte, und versuche es anzunehmen, es als Teil meines Trauer- und Heilungsprozesses zu begreifen und es vielleicht gerade dadurch zu überwinden.
So langsam wird es also etwas besser, auch wenn wir bzw. ich noch einen langen Weg vor uns haben. Doch zumindest sehe ich jetzt einen Weg, sehe ein kleines Licht vor mir, das weit entfernt funkelt und mich aus den dunklen Tiefen des Meeres wieder an die Oberfläche zieht. Von einem Stück dieses Weges, des Weges aus dem Verdrängen, möchte ich Euch heute erzählen:
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Unter dem Meer. Meine Fehlgeburt: Der Weg aus dem Verdrängen (3)
Verdrängen als Schutz
Früher konnte ich nicht verdrängen. Gar nicht. Das klingt erstmal gut, doch es war fast eine Last. Ich erinnerte mich an alles, hatte alles immer präsent. Natürlich nicht nur das Gute, Schöne, Leichte, sondern auch das Bedrückende, Traurige, Schwere. Es ließ mich nicht in Ruhe; ich konnte es nicht wegschieben. Selbst nachts, wenn ich todmüde war und trotzdem vor lauter Gedanken nicht schlafen konnte, gelang es mir nicht, einfach mal loszulassen.
Vielleicht, weil ich es für falsch hielt. Vielleicht, weil ich erlebt habe, wie es ist, wenn vieles unter den Teppich gekehrt wird. Wobei ich nie verstanden habe, wieso: Wurde es denn dadurch nicht noch schlimmer?
Heute weiß ich es besser: Natürlich ist Verdrängen per se nicht gut, doch es kann ein Schutz sein, ein Schutz vor dem zu viel. Vor dem zu stark, zu schmerzhaft, zu zerstörerisch. Das verstehe ich jedoch erst jetzt; jetzt, wo ich es selbst erlebt habe. Zu massiv, zu oft, zu vernichtend waren für uns die vielen Fehlgeburten der letzten Jahre. Zu heftig hat uns der Verlust unserer Kinder, unserer geliebten Babys getroffen. Zu stark waren die Trauer, die Hilflosigkeit, ja auch die Verzweiflung im Angesicht des allgegenwärtigen und immer wieder kehrenden Todes der kleinsten, geliebtesten Wesen, die nie eine Chance hatten, nie ein Leben, nie eine Zukunft haben werden.
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Verdrängen, um zu funktionieren
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Verdrängen, um zu funktionieren
Da begann ich zu verdrängen: Alles, was geschehen war, all meine Trauer, all meine Gefühle beiseite zu schieben, weil ich nicht mehr konnte. Oder vielmehr, damit ich noch weiter konnte. Damit ich für meine quicklebendigen Küstenkinder da zu sein vermochte, die es ja glücklicherweise auch gibt, die natürlich ihr Recht auf Leben einfordern und nur das Beste verdienen. Damit ich sie von der Kita abholen, mit ihnen spielen, lachen und toben konnte. Dafür musste ich fit sein, dafür musste ich schlafen, essen und ein Minimum an Kraft aufbringen. Denn das, diese lebensnotwendigen Sachen gehen nicht, wenn man die ganze Zeit nur denkt: Tot. Sie sind alle tot. Und das dachte ich oft. Sehr oft. Jedenfalls zu oft, auch wenn mir das von außen vielleicht keiner angesehen hat. Doch das Innere und das Äußere - das ist nicht immer das gleiche.
Deshalb musste ich verdrängen; das dachte ich zumindest. Vor mir selbst sagte ich: Ich kann heute nicht trauern, ich muss noch dies, das und jenes erledigen. Und morgen kann ich auch nicht trauern, da kommt wieder das, jenes und dies. Ich schob die Trauer, ich schob das Drüber-Reden, ich missachtete meinen eigenen erste Hilfe-Grundsatz für Eltern von Sternenkindern: Sprich darüber!
Das hatte nicht nur negative Seiten: Ich funktionierte, und zwar erstaunlich gut. Ich schaffte eine Menge Dinge, die sonst liegen geblieben wären. Und ich verstand zum ersten Mal diejenigen, die verdrängen bzw. nicht sprechen wollen oder die Dinge, die zu hart, zu schwer und schmerzhaft sind, einfach unter den Tisch fallen lassen. Denn wenn man daran rührt, tut es weh, und zwar richtig. Und man läuft in Gefahr tief zu fallen, in Gefahr, dass man selbst und alles um einen herum zusammenbricht.
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Was passiert, wenn man dauerhaft verdrängt
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Was passiert, wenn man dauerhaft verdrängt
Doch wenn man nicht daran rührt, wenn man diesen Teil vom Selbst verleugnet, die Trauer und den Schmerz nicht nur kurz wegschiebt, sondern auf Dauer verdrängt, verliert man etwas Wesentliches. Søren Kierkegaard, der kluge, traurige und sehr weitsichtige dänische Philosoph soll dazu gesagt haben:
"At vove er at tabe fodfæste en kort stund. Ikke at vove er at tabe sig selv."
Oder frei übersetzt auf Deutsch:
"Etwas zu wagen bedeutet, für einen Augenblick den festen Halt unter den Füßen zu verlieren. Nichts zu wagen heißt sich selbst zu verlieren."
Ja, das ist wahr. Ich verlor mich nach dieser erneuten Fehlgeburt natürlich nicht ganz, aber dennoch drohte ein Teil von mir verlustig zu gehen. Und zwar der Teil, den ich oben schon ansatzweise beschrieben habe: Mein trauerndes, verletztes Ich, meine Mutterseele, die voller Kummer um ihre gestorbenen Babys weinte, so sehr, dass ich es kaum aushalten konnte.
Diesen Teil, den schob ich weg. Ich tauchte ab ins tiefe Meer, fort vom Schmerz und versuchte, alles wegzudrücken, was mit der Trauer zu tun hatte. Doch Druck erzeugt Gegendruck - und dieser verdrängte Part meines Selbsts konnte mächtig drücken!
Er stahl sich in mein Bewusstsein, wenn ich schlief, so dass ich von Alpträumen geplagt weinend erwachte. Stahl sich zurück als schlechtes Gewissen, denn verleugnete ich so nicht auch meine geliebten verlorenen Babys? Stahl sich zurück, wenn ich ausnahmsweise mal allein im Auto saß und brach aus meinen Augen aus wie eine Sturmflut, der der Verkehr egal war und die mich zum Inne- und Anhalten zwang. Stahl sich zurück und fragte: Was ist mit der Liebe? Verlierst Du nicht auch die Liebe? Stahl sich zurück als Stimme, die da sagte: Du machst es falsch. Denn eigentlich wusste ich es ja besser - bei den anderen Fehlgeburten hatte mir das Reden, das Schreiben darüber immer geholfen.
Doch diesmal war ich zu verletzt, zu müde, zu getroffen, jedenfalls für eine ganze Weile.
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Der Weg aus dem Verdrängen - der Weg aus der Tiefe nach oben
Doch diesmal war ich zu verletzt, zu müde, zu getroffen, jedenfalls für eine ganze Weile.
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Der Weg aus dem Verdrängen - der Weg aus der Tiefe nach oben
Und das bin ich immer noch. Sehr, sehr müde. Sehr, sehr verletzt. Voller Kummer, voller Trauer, voller Verlust. Der mich weinen lässt, jeden Abend, wenn ich allein vor dem Rechner sitze. Wo ich nach Worten suche, Worte, die ich verstehen kann und die vielleicht sonst noch jemand verstehen kann. Worte für mich und Worte für Euch. Worte, die hart sind, aber die auch heilen. Worte, die mir helfen. Worte, die vielleicht sogar anderen helfen können. Und vor allem Worte, mit denen ich ehrlich zu mir sein kann, mit denen ich mir etwas eingestehen und mit denen ich mich wieder näher an mich selbst herantasten kann.
Denn das will ich. Ich will diesen Teil von mir nicht länger verleugnen oder verdrängen, ebensowenig, wie ich die Liebe zu meinen verlorenen Kinder aus meinem Leben streichen will. Auch wenn dieser Teil meines Selbst voll Trauer ist, voll Wut und voll Verzweiflung. Doch das bin auch ich, nicht nur das Funktionieren, nicht nur das Überleben. Und das darf ich auch sein, nach allem, was passiert ist. Ich darf trauern und ich darf müde sein. Ich darf das alles zulassen und zugeben. Ich darf das denken, fühlen und schreiben. Und ich werde, ich will das alles überleben.
Vielleicht fangen die Worte mich ja auf, wenn ich es ihnen nur zutraue. Vielleicht fangen auch andere mich auf, liebe Menschen in meinem Umkreis, mit denen ich reden könnte, wenn ich mich nur mal traute. Und vielleicht fange ich mich dann ja auch selbst auf, wenn ich mir das denn zutraute, wenn ich wagen würde, das zu versuchen.
Denn eigentlich - und daran muss ich mich bei dem ganzen Schmerz, bei der ganzen Trauer nur erinnern, auch wenn das unendlich schwer fällt - eigentlich hat mich das die Erfahrung der letzten Jahre gelehrt, wenn auch auf harte Art und Weise: Ich kann mich wieder auffangen. Ich kann aufstehen, ich kann aus den Tiefen des Meeres auftauchen. Ich kann weitermachen. Auch mit der Trauer, mit all meinen Gefühlen. Und zwar, indem ich sie bewältige, nicht nur verdränge.
Ich kann das, ich will das und ich werde das ab jetzt auch tun. Leicht wird das nicht, aber vielleicht muss ich das ja auch nicht alleine schaffen; jetzt, wo ich endlich darüber rede, jetzt, wo ich mir und anderen endlich eine Chance gebe.
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Ach, Ihr Lieben, danke, dass Ihr mir bis hierhin zugehört, bis hierhin gelesen habt! Ich würde mich freuen, wenn Ihr weiter mit an Bord bleibt, auch wenn das Thema hart und die See rau ist. Bitte lichtet mit mir den Anker, begleitet mich auf meinem Weg aus der Tiefe nach oben, aus dem Verdrängen zurück ins Sprechen und ins Schreiben.
Eure Küstenmami
PS: Weitere Texte zum Thema "Fehlgeburt" findet Ihr in meiner Rubrik Sternenkinder. Es gibt auch einen ausführlichen Blogpost mit Informations- und Unterstützungsangeboten für betroffene Eltern und Angehörige. Ihr seid nicht allein!
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Du hast es so treffend geschrieben. Lass dein Herz wieder offen werden für die Worte und Hilfe anderer und weine wenn Du es musst,es kann so befreien. Dieser Schmerz gehört zu Dir,so wie deine beiden quirligen Küstenkids.
AntwortenLöschenFühl Dich umarmt
Von ❤️ zu ❤️
Ja, ich glaube, der Kummer und meine Sternenkinder werden immer zu mir gehören!
LöschenVielen Dank für die liebe Umarmung und liebste Grüße
Deine Küstenmami
Ich habe die Erfahrung ein Mal machen müssen, das ist fast 10 Jahre her. Dieses Kind, meine zweite Schwangerschaft, habe ich nach 8 Wochen verloren - und das hat sehr weh getan. Lange Zeit. Aber ich habe danach noch zwei gesunde Kinder bekommen. Die Trauer ist kleiner/klein geworden - ein alter, kluger Frauenarzt hat einen Satz zu mir gesagt, der mir geholfen hat. Ich habe das Baby nicht kennen lernen dürfen, aber ein Symbol von ihm, ein Engel aus Speckstein, den ich in dieser Zeit selbst gemacht habe, ist immer noch bei mir.
AntwortenLöschenKüstenmami, ich wünsche dir alles Gute. Lass dir Zeit zum Trauern und schau wieder nach vorn.
LG, Annett
Danke, das versuche ich, mir fällt nur alles unendlich schwer. Es tut mir so leid, dass Du auch Dein Kind verloren hast; fühl Dich gedrückt, wenn Du magst!
LöschenAlles Liebe
Deine Küstenmami
Danke! Dir auch.
AntwortenLöschenLG, Annett